Zum Thema Umgang mit Pferden von Martin Plewa – Reitmeister, Ausbildner für Berufsreiter und Leiter der westfälischen Reitschule Münster
„Zur Natur des Pferdes!“ (Martin Plewa, Münster 2011)
„Nicht selten werden dem Pferd menschliche Denkmuster, Charakterhaltungen oder Verhaltensweisen unterstellt.
Tanzt einem das Pferd mal wieder auf dem Kopf herum, wird schnell vermutet, das Pferd wolle einen ärgern oder „linken“. Schnell ein Leckerli, damit es aus Dankbarkeit seine Unarten einstellt. Nein, das Pferd hat keine Charakterzüge wie Hinterhältigkeit oder Korrumpierbarkeit, solche Schwächen sind der menschlichen Natur vorbehalten.
Wir dürfen das Pferd nicht vermenschlichen, wenn schon, dann müssen wir Menschen uns „verpferdlichen“.
Nur die wenigsten Pferdefreunde haben die Chance, so wie wir, die wir beruflich mit dem Pferd befasst sind, sich jahrelang den ganzen Tag umfassend mit den jeweiligen Pferdeindividuen auseinander zu setzen. Nur wenige der heutigen Pferdebesitzer und – Halter, aber auch nur wenige unserer reiterlich aktiven Amateure sind in Pferdefamilien groß geworden und haben Pferdeverstand quasi mit der Muttermilch aufgesogen.
Millionen von Pferdefreunden bleiben wichtige Kenntnisse über Verhaltensweisen des Pferdes, über Anforderungen in Umgang und Haltung, über Erfordernisse an reiterlichem Einfühlungsvermögen versagt, woraus oft genug gravierende Probleme im Miteinander von Pferd und Mensch entstehen. Nicht selten sind dann vermeintliche hippologische Heilsbringer die erhoffte, wenn auch meist überteuert erkaufte Rettung.
Die Tatsache, dass solche „Gurus“ überhaupt Zulauf haben, aber auch die Tatsache, dass geradezu absurde Trainingsmethoden heutzutage als „neue, moderne“ Ausbildungswege deklariert und nahezu kritiklos nachgemacht werden, muss uns zu denken geben. Es werden heutzutage Sachverhalte in Frage gestellt, die sich seit Jahrzehnten, wenn nicht gar seit Jahrhunderten, im Umgang und in der Ausbildung mit Pferden bewährt haben. Was in Frage gestellt wird, wird meist sehr öffentlichkeitswirksam, noch mehr kommerziell wirksam durch eigene exotische Methoden und Verfahren ersetzt, die natürlich auch die Anschaffung ganz besonderer Peitschen, Leinen, Ketten oder Bücher und sonstiger Medien erfordern. Die im Frühjahr stattfindende Equitana wird uns hierzu wieder zahlreiche Beispiele liefern.
Als Beobachter „alternativer Heilsbringer“, die ihre vermeintlich neuen Lehren mit geradezu missionarischem Sendungsbewußtsein, aber auch kommerziellem Geschick vertreten (wobei sich missionarisch und kommerziell eigentlich ausschließen müssten),
muss ich mich fragen: haben denn die Erfahrungen sogenannter „alter Pferdeleute“, wie die z. B. meines Vaters, der aus einer über Generationen nachzuvollziehenden Pferdefamilie stammte, nichts getaugt? Haben sie mich den falschen Umgang mit dem Pferd gelehrt, wurde die falsche Reitlehre vermittelt? Wohl kaum; denn ich kann mich nicht erinnern, dass wir auch nur mit einem einzigen unserer Pferde irgendein Problem im Umgang gehabt hätten. Ein Monty Roberts war entbehrlich zu einer Zeit, als jeder Vater seinen Kindern den sachgemäßen Umgang mit dem Pferd als einen wesentlichen Teil seiner alltäglichen Erziehung mitgegeben hat.
Ich frage mich auch angesichts vermeintlich neuer Ausbildungsmethoden: Hat die HDV – gemäße Reitausbildung uns und unsere Pferde etwas in die falsche Richtung geformt? Ich meine: nein! Die größten Meister, die ich als Reitschüler oder als Trainer – bzw. Ausbilderkollege erleben durfte, haben alle die gleichen hippologischen Wurzeln gehabt, nämlich die der sogenannten “klassischen Reitlehre“ mit der Skala der Ausbildung in exakt der gleichen Formulierung, wie sie heute noch in den Richtlinien steht. Nach diesen Grundsätzen sind Pferde unter Reitern ausgebildet worden, die als Reiter und später als Ausbilder zu den bedeutendsten Vertreter dieser klassischen Reitauffassung gehörten.
Diese Generation hat exakt dieselben Reitauffassungen in die Nachkriegszeit hinüber gerettet. Sie haben die Grundlage geschaffen für den heutigen Standard deutscher Reitkultur. Ihrem Wirken entspringen die Leistungen von Reiterlegenden wie Winkler, Klimke, Ligges oder Boldt und vielen anderen Tausenden von Meisterreitern und Ausbildern, zu denen auch die Gebrüder Stecken gehören, die weltweit als Vorbilder deutschen Reitwesens gelten. Die von diesen Reiterinnen und Reitern, von diesen Ausbildern vertretene Lehre könnte schon allein deshalb als „klassisch“ bezeichnet werden, weil sie weltweit einfach die meisten und bedeutendsten Lehrmeister und Meister im Sattel hervor gebracht hat.
Worin liegen oder lagen die Gründe für diesen Erfolg und die Nachhaltigkeit dieses Erfolges? Ich vermute, es ist u.a. damit zu begründen, dass diese Generationen von Pferdeleuten das Privileg genossen haben, Pferde stets in ihrem natürlichen Bewegungsumfeld kennen gelernt und unter artgerechten, den natürlichen Bedürfnissen des Pferdes angepassten Bedingungen erlebt zu haben. Sie haben die naturgegebenen Verhaltensweisen und Lebensbedürfnisse des Pferdes von Anfang an erfahren und konnten daher in jeder Hinsicht der Natur des Pferdes gerecht werden und dementsprechend handeln.
In der Nutzung des Pferdes war man auf die Gesunderhaltung und eine hohe Lebenserwartung besonders angewiesen.
Die Ausbildung hat die wesentlichen Grundlagen gelegt für eine vielseitige Verwendungsmöglichkeit des Pferdes im manchmal ganztägigen Einsatz bei langjähriger Nutzungsdauer. Daher standen als erste Ausbildungsziele die Balancefindung unter dem Reiter, die Kräftigung und Abhärtung im Vordergrund, nicht das Erlernen von Lektionen oder gar Präsentieren spektakulärer Bewegungen. Mit dieser Ausbildungsphilosophie bin ich noch aufgewachsen, habe die ersten Longenstunden und Reitstunden, überwiegend im Gelände, auf einem Pferd bekommen, das je nach landwirtschaftlichen Erfordernissen viele Stunden am Tag im Einsatz war..
Zu vielen Reitstunden, wie z. B. bei Erich Philipp, mussten wir 20 km hin und 20 km zurück durchs Gelände reiten. Auch die Wege zu den wenigen Turnieren wurden auf dem Pferderücken zurückgelegt. Es gab ja keine Hänger, Transporter, keine ziehenden Fahrzeuge. Es gab aber auch keine Fachtierärzte für Pferde, erst recht keine Pferdeklinik. Sie wären zur damaligen Zeit auch nicht existenzfähig gewesen.
In unserer heutigen Zeit, in der der Daseinszweck des Pferdes fast nur noch darin besteht, uns in unserer meist knappen Freizeit zu erfreuen bzw. zur Befriedigung unseres aktuellen sportlichen Ehrgeizes beizutragen, laufen wir schnell Gefahr, es als zeitweise genutztes Freizeitsport – oder Leistungssportgerät zu betrachten und unsere Konzentration nur noch auf die kurze Zeitspanne des Gebrauchs zu lenken, statt die eigentlichen Lebens – und Verhaltensbedürfnisse über alle Tagesstunden eines jeden Wochentages zu berücksichtigen.
Der Natur des Pferdes entspricht nicht die höchstens einstündige Nutzung unter dem Sattel; die Natur des Pferde erfordert manchmal auch deutlich mehr Zeit, als wir uns den Pferden üblicherweise widmen können, aber auch vielmehr Raum, als es viele Reitanlagen und Betriebe in unserem stark besiedelten Lebensraum zulassen. Auch wenn manchmal viele Kompromisse erforderlich sind: an der Natur des Pferdes haben wir uns dennoch in unserem täglichen Schaffen zu orientieren, und dies nicht nur, weil es so in den uns selbst auferlegten „Ethischen Grundsätzen des Pferdefreundes“ geschrieben steht, sondern allein deshalb, weil ihre Berücksichtigung erst den sachgemäßen, gesicherten Umgang und die erfolgreiche harmonische Ausbildung ermöglicht.
Worin ist nun die Natur des Pferdes begründet, wie kann ich sie im täglichen Umgang, in der Haltung oder in der Ausbildung berücksichtigen? Zur Antwort auf diese grundsätzliche Frage eine Aussage vorab:
Trotz aller Domestizierung über Jahrtausende, trotz unterschiedlichster Nutzung durch den Menschen, trotz intensivster, gezielter züchterischer Selektion gilt nach wie vor:
Das Pferd ist von seiner Natur her mit all seinen Wesensmerkmalen ein Steppentier, ein Lauftier, ein Fluchttier, ein Herdentier, um nur einige biologisch – ethologische Begriffe der Spezies Pferd zuzuordnen. Wenn wir in unseren Breiten, aber auch bei unserer Nutzung des Pferdes es nicht wie ein Steppen -, Flucht – oder Herdentier halten können, müsste konsequenterweise die züchterische Beeinflussung das Pferd so verändern, dass es die Eigenschaften eines Käfigtieres einnimmt, wenn wir es denn tier- und artgerecht so halten wollen, wie wir es heute oft genug tun. Aber die Zucht selektiert zur Verbesserung der Reiteigenschaften, besserer Bewegungen, Rittigkeit oder besserer Springveranlagung. Noch kein Zuchtverband ist aber z. B. auf die Idee gekommen, Pferde mit besonders großen Mägen zu züchten, um sie nur noch einmal in der Woche füttern zu müssen.
Daraus folgt: solange Pferde so sind, wie sie von Natur aus sind, müssen wir sie halten und mit ihnen umgehen, wie sie sind. Das Pferd hat z. B. als Fluchttier ein extrem feines Gehör, weshalb man manche akustische Stimmungsmache auf großen Hallenturnieren fast als Tierquälerei empfinden muss. Auch das Anschreien eines Pferdes, wenn wir meinen, es dadurch disziplinieren zu müssen, entlarvt nur unser mangelndes Wissen über die Natur des Pferdes. Der Leithengst ist kein Brüllaffe. Gebrüll empfindet das Pferd als Gefahrensituation, nicht als Situation, in der es sich einem ranghöheren Lebewesen anvertrauen mag, um mehr Sicherheit zu genießen. Das Sehverhalten eines Pferdes ist nach wie vor auf Steppen – bzw. Fluchtsituationen ausgelegt.
Das Pferd hat fast Rundumsicht und kann Bewegungen wesentlich differenzierter wahrnehmen als der Mensch. Dies müssen wir einfach berücksichtigen, wenn ein Pferd sich erschrickt, auch wenn wir den Grund dafür selbst nicht realisiert haben. Das Pferd hat auch eine sehr empfindliche Wahrnehmung auf der Haut. Es nimmt jede Fliege auf dem Fell wahr, zuckt dort mit der Haut oder schlägt mit dem Schweif, um das Insekt zu vertreiben. Dies muss allen zu denken geben, die mit scharfen Sporen oder heftigem Schenkeleinsatz das Pferd malträtieren. Stumpf oder gar „tot am Schenkel“ ist ein Pferd nicht von Natur aus, es wurde dazu gemacht! Außer bei den Sinnesorganen entspricht auch die sonstige Anatomie und Physiologie des Pferdes noch ganz der eines Steppentieres.
So verfügt das Pferd über einen empfindlichen, hoch entwickelten Atmungsapparat, dem man nicht nur durch entsprechende Haltung Rechnung tragen muss, sondern auch durch entsprechendes Training. Wenn Pferde nicht mehr frei und auch in höherem Tempo galoppieren dürfen, können die Atmungsorgane nicht mehr ausreichend ventiliert werden.
Ständiges Dressurreiten in gedrosseltem Tempo ohne freie Galopps auf der Weide oder unter dem Sattel, ist daher Degenerationstraining für die Lungen. Das Verhalten von Fohlen und Jungtieren auf großen Weiden zeigt uns deutlich, wie durch einen Wechsel von ruhiger Bewegung zu flotten Galopps die Natur dafür sorgt, dass der Atmungs- , aber auch der Bewegungsapparat ständig trainiert und damit gesund erhalten wird. Auch hinsichtlich des Bewegungsapparates stellt das Pferd von seiner Natur her die Anforderungen eines Dauerlauftieres. In freier Umgebung würde sich das Pferd fast ständig in Bewegung befinden, meist im ruhigen Schritt, evtl. unterbrochen von schnellen Galopps als Training für die Fluchtsituation (der Trab ist eher die Erholungsgangart, das gilt übrigens auch für das sportliche Training).
Wenn nun ein Halter oder Reiter sich nun damit brüstet, sein Pferd täglich zu bewegen, weil er es ja jeweils eines Stunde reitet und natürlich auch keinen Stehtag einlegt, kann er der Natur des Pferdes mit diesem Bewegungsangebot dennoch nicht entsprechen. Es ist nämlich zu unterscheiden zwischen naturgegebenen Bewegungsbedarf und dem individuellen Bewegungsbedürfnis. Das Training kann evtl. einen Teil des Bewegungsbedarfes abdecken, ob es aber dem jeweiligen individuellen Bedürfnis des Pferdes entspricht, in einer Reitstunde 20 Pirouetten zu drehen, 10 Minuten zu piaffieren oder 40 Sprünge zu überwinden, sei sehr dahin gestellt.
Den ausreichenden Bewegungsbedarf und die Befriedigung des Bewegungsbedürfnisses kann ich nur sicher stellen, wenn ich dem Pferd zusätzlich zum Reiten freie, ungezwungene Bewegung (z. B. auf ausreichender Weidefläche) ermögliche.
Die Tatsache, dass die meisten Dressurpferde, aber auch sehr viele Springpferde, aber in selteneren Fällen Fahr- und Vielseitigkeitspferde sich bei Siegerehrungen angeblich nicht mehr ohne Zwangsmittel vorstellen lassen, kann Beleg dafür sein, dass natürliche Bewegungsbedürfnisse des Pferdes nicht mehr ausreichend abgedeckt sind, die dann aber bei der Ehrenrunde im Herdenverband wieder wach werden; unter Musik – und Applausbegleitung wird gleichzeitig der Fluchtinstinkt mit trainiert.
Bekäme jedes Dressur – und Springpferd regelmäßig Gelegenheit zu flotten Galopps unter dem Sattel oder auf der Weide, könnten vielleicht auch Dressurweltmeister und Springderbysieger wieder ungefährlicher ihre Ehrenrunden drehen.
Vor allem bräuchten wir uns die unglaublich unsinnige Argumentation nicht mehr anzuhören, der Schlaufzügel auf dem Abreitplatz oder bei der Siegerehrung diene der Sicherheit. Wenn wir Zwangsmittel einsetzen müssen, um Pferde in bestimmten, von uns gewollten Situationen gefügig zu halten, haben wir unsere reiterliche Bankrotterklärung abgegeben. Sie offenbart insbesondere ein geradezu perverses Verständnis von Dressur als Abrichtung des Pferdes für die Erfüllung bestimmter Aufgaben, ohne auf die eigentlichen Bedürfnisse des Pferdes Rücksicht nehmen zu müssen.
Das Pferd dokumentiert uns in seinem Verhalten, in seinem Gesundheitszustand und in seinen Befindlichkeiten unseren hippologischen Sachverstand.
Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl aller Pferdeerkrankungen heutzutage ausgerechnet am Atmungs – und am Bewegungsapparat auftreten, belegt, dass wir meist nur bedingt die Lebensbedürfnisse eines Pferdes in unserer Haltung und Nutzung befriedigen können. Wir haben nun mal keine Steppe mehr vor der Haustür, aber das ist auch keine Ausrede dafür, die Anforderungen an Haltung, Bewegung und Ernährung auf Kosten der Gesundheit und des mentalen Wohlbefinden des Pferde zu ignorieren.
Die Qualität des Miteinander von Mensch und Pferd wird aber auch ganz wesentlich vom Herdenverhalten des Pferdes bestimmt und davon, wie der Mensch damit umgeht. Man könnte salopp sagen: das Pferd ist ein Gesellschaftstier und spätestens dann, wenn wir ein Pferd aus dem Herdenverband herausholen, müssen wir uns als Sozialpartner des Pferdes verstehen und uns auch entsprechend verhalten, natürlich als das dominierende, ranghöhere Lebewesen. Die über das Pferd zu erzielende Dominanz muss aber von Respekt und Vertrauen geprägt sein, nicht von Angst oder Unsicherheit.
Indem sich das Pferd Respekt – und vertrauensvoll unterordnet, gewinnt es an Ruhe und innerer Sicherheit, an der Hand wie unter dem Sattel.
Die Leittierrolle zu übernehmen fällt vielen Menschen schwer, es erfordert Kenntnisse in den Verhaltensweisen des Pferdes und besonders viel Konsequenz. Grobiane, die sich mit einem Pferd anlegen, können es dauerhaft unbrauchbar machen, weil das Pferd im Kampfe schnell merkt, dass es ja doch der Stärkere ist. Pferde haben auch ein hervorragendes Erinnerungsvermögen. Ihre Misshandler vergessen sie ein Leben lang nicht.
Umgekehrt: Eine Chance für uns, durch richtigen Umgang mit seinen Pferden lebenslange Vertrauensverhältnisse zu ihnen aufbauen zu können.
Falsch verstandene Pferdeliebe führt aber auch nicht zum Ziel, weil damit kaum Dominanz zu erzielen ist.
Nicht selten werden dem Pferd menschliche Denkmuster, Charakterhaltungen oder Verhaltensweisen unterstellt. Tanzt einem das Pferd mal wieder auf dem Kopf herum, wird schnell vermutet, das Pferd wolle einen ärgern oder „linken“. Schnell ein Leckerli, damit es aus Dankbarkeit seine Unarten einstellt. Nein, das Pferd hat keine Charakterzüge wie Hinterhältigkeit oder Korrumpierbarkeit, solche Schwächen sind der menschlichen Natur vorbehalten.
Wir dürfen das Pferd nicht vermenschlichen, wenn schon, dann müssen wir Menschen uns „verpferdlichen“.
Uns wäre dann z. B. schnell klar, weshalb sich kein Pferd durch Reißen am Zügel vertrauensvoll unterordnen lässt, auch nicht beim Führen, selbst wenn man ihm eine Kette durchs Maul zieht. Oder haben Sie schon mal ein ranghöheres Pferd gesehen, dass dem rangniederen auf die Zunge beißt? Wir würden verstehen, weshalb Pferde als Fluchttiere immer unzuverlässiger und skeptischer springen, wenn man die Angst vor einem Sprung mit der Angst vor der Peitsche überwinden will.
Wir wüssten Scheuen richtig einzuschätzen und dem durch mehr Ruhe, aber auch durch mehr Bestimmtheit (bedeutet vertrauensvolle Unterordnung) zu begegnen. Wir könnten innere Unruhe, äußere Merkmale der Unzufriedenheit schon im Ansatz erkennen und wir könnten es ermöglichen, dass es überhaupt keine sogenannten Korrekturpferde mehr gäbe.
Das widersetzliche Pferd zeigt mir nur mein eigenes Unvermögen im Umgang oder beim Reiten auf. Es ist der Spiegel meiner Inkompetenz. Das schwierige Pferd wurde nicht als sogenannter Verbrecher geboren, es wurde vom Menschen dazu gemacht; oft nicht aus Bösartigkeit oder krimineller Energie, sondern aus Unkenntnis über sachgemäßen, naturgerechten Umgang mit dem Pferd.
Dies gilt für jegliche Ausbildung, vom Boden, vom Bock oder vom Sattel aus.
Wir Pferdeausbilder haben es aber gar nicht so schwer uns über artgerechte Ausbildung zu informieren. Wir können, müssen aber nicht alle verfügbaren Bücher lesen oder uns teure Geheimtipps von Gurus erkaufen.
„Richtig reiten reicht“, so hat es mein hippologisches Vorbild und Vorgänger in meinem jetzigen Amt Paul Stecken trefflich auf den Punkt gebracht. Und wie richtig reiten geht, steht in unserer Reitlehre beschrieben, wir müssen uns nur daran halten. Unsere Reitlehre, basierend auf der Skala der Ausbildung, ist kein abstraktes theoretisches Konstrukt, sondern hat sich entwickelt aus Beobachtungen und Erkenntnissen von Pferdefachleuten zur Natur und zu den natürlichen Bewegungen des Pferdes. Nicht nur die Ausbildungsskala, sondern alle gymnastizierenden Übungen lassen sich in ihren Zielsetzungen logisch und nachvollziehbar mit den anatomischen Zusammenhängen erläutern. Sich ergebende Beanspruchungen sind physiologisch erklärbar.
Takt ist u. a. deshalb 1. Punkt der Ausbildungsskala, weil sich ein gesundes, frei laufendes Pferd stets Takt rein bewegt. Unter dem Reiter muss dem Pferd Gelegenheit gegeben werden, sich seinem natürlichen Verhalten entsprechend zu bewegen. Oder anders ausgedrückt: Wer sein Pferd nachhaltig aus dem Takt bringt oder im Takt stört, reitet gegen die Natur des Pferdes.
Ähnlich die Begründung für die Losgelassenheit: Anspannung zeigt ein freies Pferd nur in Angst- und Fluchtsituationen, ggf. in Rangordnungskämpfen, zu denen das Pferd aber nur in kurzen Zeitspannen fähig ist. Nur in Losgelassenheit hält ein Pferd demnach längere Arbeit und Training ohne gesundheitliche und mentale Beeinträchtigungen aus. Nur ein vertrauensvoll sich unterordnendes Pferd kann losgelassen gehen, das zwangsweise Untergeordnete hat Angst und geht damit verspannt. Alle Indizien der Losgelassenheit (Kauen, schwingender Rücken, pendelnder Schweif, das Abschnauben, die Dehnungsbereitschaft) lassen sich mit natürlichen Körperfunktionen erklären.
Gleiches gilt für die Kriterien der Anlehnung. Nimmt z. B. ein Pferd beim Zügel aufnehmen zu Beginn der Stunden den Kopf hoch, zeigt es als Fluchttier damit eine Angstsymptomatik, hier wahrscheinlich die Angst vor den Schmerzen, die eine riegelnde Reiterhand verursacht. Auch alle anderen Anlehnungsphänomene sind funktional begründbar. Angesichts der Rollkurthematik möchte ich noch auf die Bedeutung des Halses als Balancierstange verweisen. Zwangsweises Verbiegen oder Zusammenziehen des Halses entspricht in keiner Weise der Natur des Pferdes. In der Natur würde kein Pferd über längere Zeit solche absurden Halshaltungen einnehmen, da es sich dabei seiner eigenen Balancefähigkeit berauben würde. Was dieses auch mental bedeutet, kann sich jeder Mensch deutlich machen, wenn er selbst körperliche Arbeit in Zwangshaltungen ausführen müsste.
Zurück zur Ausbildungsskala: Warum brauchen wir Schwung und Schubkraft? Sie sind Voraussetzung dafür, dass dem Pferd das Tragen des Reitergewichtes im Rücken erleichtert wird. Geraderichtung bedeutet gleichmäßige Gymnastizierung beider Körperhälften, eine zwingende Voraussetzung zur Gesunderhaltung.
Den Begriff Versammlung kann man auch mit Balancierfähigkeit übersetzen. Das Steppen – ,Lauf – und Fluchttier Pferd benötigt aber extreme Versammlung in der Natur nur sehr selten und nur in sehr kurzen Zeitabschnitten, weshalb die Muskulatur für Versammlung zu Dauerbelastungen nicht geeignet ist. Übertriebenes Piaffieren, Passagieren oder Pirouetten drehen macht Pferde daher schnell in den Muskeln sauer; ihnen bleibt nichts anderes übrig, als bei Überforderung mit negativer Anspannung die geforderten ungesunden Bewegungen auszuführen. Mit diesen Basiskenntnissen zu funktionaler Anatomie wird mir die Freude an manchen Kürprüfungen im Grand Prix – Bereich genommen, in denen je nach Talent mache Pferde immer länger schweisstreibend auf der Stelle tanzen müssen. Nun ja: den trocknenden Schnellgalopp können sie bei Bedarf ja in der Ehrenrunde nachholen, quasi als Ersatzbefriedigung für entgangene Vorwärtsbewegung.
Provozierende Aussagen wie diese überzeichnen bewusst, sie sollen aber um so deutlicher machen, dass wir bei aller Euphorie für unseren Sport, bei allem Enthusiasmus für den Umgang mit dem Pferd stets unserer Verantwortung bewusst sind für die artgerechte Haltung eines Lebewesens, das wir zum Haustier gemacht haben, obwohl es noch Naturmerkmale eines Wildtieres in sich trägt.
Vielleicht können wir hierin auch eine große Chance für unsere weitere berufliche Tätigkeit sehen, indem wir unser ganzes Tun und Handeln stets mit den Anforderungen begründen, die uns die Natur des Pferdes stellt.
Wenn wir dies unseren Kunden vermitteln, werden wir die Kundschaft auch zufrieden stellen, denn wohl jedem Pferdebesitzer liegt das Wohlbefinden seines eigenen Pferdes ganz besonders am Herzen, ein Wohlbefinden, das wir mit dem Eingehen auf die natürlichen Bedürfnisse des Pferdes in besonderer Weise zu erreichen versuchen.
Das Pferdeburnout – vom Tragen erschöpft. Von Katja Eisenring.
03/09/2015 Medizin, Reportagen
„Trageerschöpfung“ ist ein Gespenst, das einem im Therapie und Trainingsalltag aus vielen Boxen, Offenställen, Weiden und Reithallen entgegen weht. Im Zeitalter der Rollkurdiskussion führt der Begriff „Trageerschöpfung“ leider ein Schattendasein. Das Grundproblem beschreibt der Begriff selbst eigentlich schon ganz plastisch. Die Muskulatur ist in ihrer Leistungsfähigkeit und Funktionalität erschöpft. Sie wird durch länger andauerndes Überlasten, nicht erkannter Schmerzen, mangelnder Ausrüstung, zu wenig an die Versammlung heranführendes, gymnastizierendes Training an falschen Orten aufgebaut (z.B. Unterhals, kompensatorische Kruppmuskulatur, kurze Genickmuskulatur) und bei den am Tragen beteiligten Strukturen (Oberhals, Hanke/Kruppe, Bauch) fehlt sie. Da die Muskeln für die Stabilisierung der Gelenke, die Koordination der Bewegung und schlussendlich für das Tragen eines Menschen zuständig sind, ist es nur logisch, dass bei ungenügender und/oder kompensatorischer Bemuskelung Strukturen wie die Wirbelsäule, Sehnen, Bänder und Gelenke Schaden nehmen. Ein trageerschöpftes Pferd zeigt dies einer erfahrenen Person bereits anhand von Gebäudemerkmalen und Verhalten. Z.B.:
– Einbuchtungen hinter dem Widerrist in der Sattellage
– ein abgesackter Brustkorb
– aufgewölbte Lendenwirbelsäule ähnlich eines Karpfenrückens
– „Loch“ beim Sacrum (Kreuzbein)
– unterhalb vom Brustkorb ist auf beiden Seiten ein harter Strang zu erfühlen, die verspannte Bauchmuskulatur; das Pferd wird auffällig „kitzelig“
– verstärkte Muskulatur an der Vorhand, diese trägt mehr Last
– atrophierte Kruppmuskulatur v.a. Glutaeus und Semitendinosus, sie ist häufig total verhärtet
– die Pferde klemmen im Widerrist und können sich nicht mehr fallen lassen
– die Schultermuskulatur ist fest, der Unterhals gut trainiert
– das Pferd vermeidet schmerzvolles Dehnen und Biegen, was zu Unstimmigkeiten mit dem Reiter führt
– apathisches Stehen in der Box, häufig in sich gekehrter Blick
– dazu können Verspannung und Blockaden in Genick, Kiefergelenk und Zungenbein kommen, was sich z.B. auch in nur einseitigen Zahnkanten äußern kann.
(Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, kann aber vielleicht etwas weiterhelfen und Denkanstösse geben.)
Die Entstehung einer solchen Trageerschöpfung ist ein schleichender Prozess, der aber schneller vonstattengeht, als man es beim ursprünglich nicht für’s Tragen konzipierten, auf vier Beinen stehenden, 300 – 800kg schweren, robust wirkenden Fluchttier Pferd annehmen würde. Im Therapie- und Trainingsalltag werden aus jeder Sparte trageerschöpfte Pferde vorstellig. Für Muskeln, die etwas leisten sollen und das müssen die Muskeln unsere Pferde, da wir sie schlicht und ergreifend reiten – muss man etwas tun und zwar das Richtige zur richtigen Zeit, in der richtigen Intensität. Die Symptome einer Trageerschöpfung geht man am besten zuerst mit Therapie an. Erstes Ziel muss sein, die Verspannungen und Blockaden zu lösen und Schmerzfreiheit herzustellen. Dies muss immer der erste Schritt sein, da gesunde Muskulatur nur durch Schmerzfreiheit entstehen kann. In meiner langjährigen Praxis hat es sich sehr bewährt, die Therapie bald mit angepasstem Training vom Boden aus zu kombinieren und den Besitzer dabei mit einzubeziehen. Ist das Pferd dann verspannungs- und schmerzfrei und hat die ersten „richtigen“ Muskeln aufgebaut, wird das Trainingsrepertoire auf’s Reiten ausgeweitet. Das Wiederherstellen des muskulären (und meist auch seelischen) Gleichgewichts und das Üben gesunderhaltender Bewegungsabläufe dauert und benötigt Geduld. Doch wird man dann auch reich belohnt. Das Pferd wird schöner, stärker, freudiger und verletzungsresistenter – übrigens auch, wenn noch keine Trageerschöpfung vorliegt.
Text: Katja Eisenring